Der Gestus der Improvisation in komponierter Musik Untersuchungen zu David Plates Orgelwerk „Nordisches Ballett“

Von Moritz Reuter

Herr Plate, überrascht es Sie, dass ich ihr Stück „Nordisches Ballett“ unter dem Aspekt der „Improvisation“ analysiert habe?

Nun ja, ich weiss nicht. Im Grunde genommen sind die Sachen zunächst improvisiert und werden dann aufgeschrieben wodurch sie erst zu einer Komposition werden. Prof. Bönig (Organist Kölner Dom) hat es dann natürlich Ton für Ton so gespielt wie es notiert wurde. Er „improvisierte“ zumindest mit seinen Registereinstellungen und da saß er auch sehr lange dran, bis das ganze dann funktionierte. Beim Konzert selbst ruft man dank neuster Technik die beim Proben präzise festgelegten Registereinstellungen nur noch ab. Bönigs Interpretation beim Konzert ließ sich in der Orgel speichern und auch wieder abrufen was schon deswegen ein Traum ist, weil man später eine Aufnahme davon machen konnte, bei der kein Publikum anwesend ist (das ja immer Nebengeräusche produziert). Die komplexe Technik der Orgel im Kölner Dom war für mich Neuland und erinnerte mich an ein Flugzeugcockpit. Zum Teil hat er da taktweise die Register gewechselt und hatte glaube ich auch noch Hilfe von einem Registranten.

Am Tag der Aufnahme wurde es dann nochmal spannend, als sich durch die Kälte der Kirche wohl einige Zungenstimmen der Orgel furchtbar verstimmt hatten. Da fing also das „improvisieren“ dann wieder an. Winfried Bönig war glücklicherweise schnell dazu in der Lage umzuregistrieren. Wir haben insgesamt zwei Takes aufgenommen und die Endfassung daraus zusammengeschnitten.

Die hallige Domakustik war beim gesamten Prozess für mich als Jazzmusiker schon eine ganz neue, eigene Erfahrung. Ich hatte einmal ein großes Stück für das 150-jährige Jubiläum des Kölner Domchors geschrieben, zusammen mit dem Gürzenich-Orchester und da wusste ich schon vorher, dass es im Dom uraufgeführt werden sollte und konnte deshalb die sehr hallige Akustik schon beim Komponieren berücksichtigen. In Generalpausen z.B. klingt ein lauter Akzent einfach noch einige Sekunden nach, viel extremer als in einem Konzertsaal. Bei diesem Orgelwerk wusste ich das vorher nicht. Die Vorversionen des Stückes waren ja schon Jahre vorher fertiggestellt worden und wurden dann anläßlich der Orgelfeierstunden „nur noch“ zu einer Orgelfassung umgearbeitet. Ich war dann doch ganz glücklich, dass die Aufnahme so gut gelungen ist.

Es war auf jeden Fall eine ganz neue Welt, in die ich zum damaligen Zeitpunkt eintauchen durfte. Herr Bönig hat mich da gut in die Besonderheiten der Orgel eingewiesen und auch erklärt, was man beim Notieren eines Orgelwerks so alles beachten muss. Das war für mich als Komponist eine super Lehrstunde.

Haben Sie Einfluss auf den Klang und die Registrierweisen vom Interpreten Bönig genommen?

Es gibt ja Komponisten, die ganz genaue Vorstellungen davon haben, wie ihre Stücke klingen sollen, hinein bis ins allerletzte Detail. Ich denke mir da, der Organist ist ja der Experte für sein Instrument. Er soll dabei nicht nur „Erfüllungsgehilfe“ sein, er soll gestalten können und die Musik mit seinen Ideen bereichern. Mit Sicherheit hat er als Profi-Organist bei vielen Fragen bessere Antworten als ein Orgel-Laie wie ich. Ich war sehr happy mit allen Vorschlägen, mit denen Herr Bönig mein Stück bereichert hat! Einige Klänge waren erstmal anders als in meiner Vorstellung, trotzdem immer überzeugend, daher habe ich bei keiner einzigen Stelle gesagt: „Nein, das musst du hier anders machen“. Eingemischt habe ich mich höchstens, wenn es z.B. um Fragen des Tempos o.ä. ging.

Das Werk hat einen besonderen Entstehungsprozess, können Sie von den Anfängen berichten?

Im Jahr 1999 entstand die allererste Orchesterversion, die damals noch „Welten“ hiess und ca. sechs Minuten kürzer war. Ich habe 1997 meinen Abschluss an der HfMT Köln gemacht (Hauptfach Jazzgitarre) und ein Jahr später dann noch an der Folkwang Musikhochschule in Essen Jazzarrangement/-komposition studiert. Dort gab es die Tradition, dass die Arrangier-Studierenden jedes Semester für ein bestimmtes Projekt schreiben und die Besetzung war in jedem Semester eine andere, je nach Turnus. Ausgerechnet in meinem ersten Semester war da großes Orchester an der Reihe, in das auch noch die Musiker der Big Band eingebunden waren. Die mit Abstand größte Besetzung für die ich bis zum damaligen Zeitpunkt geschrieben hatte! Deshalb sind in der Urfassung auch verhältnismäßig viele Saxophone, Trompeten und Posaunen besetzt. Eigentlich zu viele im Verhältnis zu den Streichern. Es waren nur sechs erste Geigen, fünf zweite und so weiter, dafür aber drei Posaunen, drei Saxophone und drei Trompeten. Da bräuchte man normalerweise viel mehr Streicher, um das auszugleichen.

Für mich bestand der Herbst/Winter 1998 also daraus, Orchestrationsbücher zu wälzen, also z.B. Samuel Adler: The Study Of Orchestration - mein absolutes Lieblingsbuch, das damals 150 Mark gekostet hat, bis dato mein teuerstes Buch. Die zehn CDs mit den dazugehörigen Hörbeispielen kosteten nochmal genauso viel (lacht). Da habe ich mich jedenfalls monatelang nur mit Instrumentenkunde und Orchestration beschäftigt. Das war eine der aufregendsten Zeiten während meines Studiums. Wir mussten drei Stücke abgeben: eine Stilkopie, ein vorgegebenes Stück, das wir frei arrangieren durften, und ein ganz freies Stück - und Welten war eben das ganz freie von den dreien.

Wie würden Sie dann den genauen Prozess des Komponieren bei Ihnen beschreiben? Ist das ein eher intuitiver oder sehr rationaler Zugang, den Sie da haben? Wie war das damals?

Dass Sie mir diese Frage stellen würden, damit habe ich im Vorfeld unseres Gesprächs schon gerechnet und habe deshalb meine Diplomarbeit aus dem Jahr 1997 mitgebracht. Die hatte ein seltsames Thema: „Heptatonische Systeme als Kompositionsgrundlage“. Ich war damals im Harmonielehre-Fieber und der Kern der Arbeit ist die Untersuchung der Frage: Wieviele siebentönige Tonvorräte kann man aus unseren zwölf Tönen eigentlich bilden? Da gibt es dann im hinteren Teil riesige Tabellen, die die resultierenden 66 Tonleitersysteme (Transpositionen nicht mitgerechnet) darstellen (spielt auf der Gitarre). Die spannende Frage war, welche leitereigenen Vierklänge ergeben sich da durch Terz- oder Quartschichtung. (Nicht berücksichtigt habe ich andere Intervalle, da sich bei der Quint- und Sextschichtung je nach Blickwinkel im Prinzip dasselbe ergeben würde. Und bei der Übereinanderschichtung von Septimen und Sekunden ergäben sich ja nur Tonleitern.)

Ich wollte damals wissen, welche Akkordklänge, die über unser Dur/Moll-System hinausgehen und trotzdem einer stringenten Logik unterworfen sind, möglich sind. Im Nachhinein kann ich mich nicht mehr genau erinnern, an welchen Stellen ich welche Tonvorräte beim Nordischen Ballett Stück verwendet habe. Vermutlich habe ich mein selbstentwickeltes System zwar als Basis benutzt und damit Melodien und Akkordfolgen gebastelt, dann aber, wenn mich z.B. eine Melodie woanders hingeführt hat, auch „Fünfe gerade sein lassen“ und mich nicht mehr zu 100% an mein System gehalten. Die oberste Priorität in der Musik ist nun mal, dass etwas gut klingt und nicht, dass man ein System erfüllt!

Und dieses heptatonische System haben Sie sich erdacht?

Das habe ich mir so ausgedacht. Ich war damals auch ganz stolz darauf, dass ich im Anhang meiner Diplomarbeit angeben konnte, dass ich keine Sekundärliteratur verwendet habe (lacht), wobei ich nicht weiß, ob ich wirklich der erste war, der sich das ausgedacht hat.

Ich habe damals den Tonnamen noch zusätzlich Zahlen zugeordnet, also von C-H die Zahlen 0-11; also C ist 0, Cis bzw. Des ist 1 und so weiter. Dann kann man eine der 66 Tonleitern nehmen und addiert die Zahlen (Töne) auf. Ich habe die Summe dann Quersumme genannt und war der Meinung, dass man eine Art Aufhellung in der Musik hören kann, wenn man sich von den niedrigen zu den hohen Quersummen bewegt. (Anmerkung: Unter diesem Kriterium ist der Vergleich von Tonvorräten nur dann sinnvoll, wenn man die jeweilige Primeform zu Grunde legt, also denjenigen Modus eines Tonvorrats, der die niedrigste Quersumme hat. Vgl. Allen Forte „The structure of atonal music“).

Ich konnte das aber nicht genau beweisen, es kommt ja bei derartigen Erfahrungen immer auch auf den Zusammenhang an. Wie auch immer! Jedenfalls hatte ich ein paar ganz witzige Erkenntnisse, z.B. dass die beiden letzten Tonvorräte Nr. 65 und 66 (ich hatte die Tonvorräte damals nach der Höhe ihrer jeweiligen Quersumme sortiert) eigentlich alte Bekannte sind: Nr. 65 ist Lydisch#5, also ein Modus aus Melodisch Moll und Nr. 66 ist Lydisch, also ein Modus unserer Durtonleiter (spielt die Nr. 66 auf der Gitarre, C-lydisch). Diese beiden Tonvorräte gehören zu denjenigen, die uns Europäern mit am vertrautesten sind. Das fand ich eine interessante Erkenntnis damals.

Wenn man zum Beispiel die allererste Tonleiter (Nr. 1) meines Systems anschaut, die hat einen riesigen Sprung, von C nach Fis bzw. Ges. Ungewöhnlich, trotzdem lässt sich damit Musik machen. Ich habe es wie gesagt u.a. mit Terz- und Quartschichtungen versucht. Enharmonisch „korrekt“ notiert kämen wilde Sachen dabei heraus!

Ja, solche Themen haben mich während meines Studiums umgetrieben.

Meinen Sie, man kann Teile Ihres Systems denn dann überhaupt an Ihrem Orgelwerk als Aussenstehender erkennen?

Wahrscheinlich nicht. Schon deshalb, weil ich mich eben nicht ganz strikt daran gehalten habe. Meiner Diplomarbeit hatte ich damals zwei exemplarische Stücke angehängt, einen Leadsheet und ein Klavierstück, bei denen ich mich noch sehr stark an diesem System orientiert hatte. Das klangliche Ergebnis hatte mich dann allerdings selbst nicht überzeugt und ich konnte meine größenwahnsinnige Hypothese auch nicht beweisen (lacht wieder herzlich). Aber so ist man halt in diesem Alter auch ein bisschen. Ich war es zumindest…

Etwas später fand ich die eigentliche Idee aber immer noch spannend und habe jedenfalls so manchen interessanten Klang in dem einen oder anderen Tonvorrat gefunden. Zur Zeit als ich „Nordisches Ballett“ komponiert habe, war ich wie gesagt schon etwas lockerer drauf und habe mir erlaubt, wann auch immer es die Entwicklung der Musik es erfordert, andere Wege zu gehen. Ich darf mich da eben nicht zu starr dran halten, sonst wird es mechanisch.

So muss es irgendwie gewesen sein. (lacht).

Das erinnert mich doch leicht an die verschiedenen Schaffensphasen bei Schönberg.

Wenn ich so an Schönberg denke, da hat mich die Theorie dahinter schon auch fasziniert. Was ich auch Henry Martin, meinem Kompositionslehrer in New York, zu verdanken habe. Bei ihm war „atonale“ Musik immer ein großes Thema.

Durch ihn kam ich auch in Kontakt mit dem Buch „The Structure of Atonal Music“ von Allen Forte, das ich damals faszinierend fand. Martin hatte uns auch von seinem Lehrer Milton Babbitt berichtet, der wohl eine Theorie entwickelt hat, die besagt, dass einer bestimmten Tonfolge immer auch ein bestimmter Rhythmus innewohnt.

Das fand ich zwar echt crazy, aber mit der Musik von Babbitt konnte ich damals nicht viel anfangen (lacht). Deshalb habe ich mich dann auch nicht weiter mit der Theorie dahinter beschäftigt. Letztendlich kann man unser zwölfstufiges Tonsystem eben als großes Zahlensystem verstehen, mit dem man allerlei mathematische Spielereien treiben kann.

Wie würden Sie die beiden Begriffe Improvisation und Komposition für sich einordnen?

Das kommt natürlich ein bisschen darauf an, was man unter Improvisation genau versteht. Als Jazzmusiker meint man damit ja traditionell über einer Akkordfolge eine neue Melodie zu erfinden, wobei es natürlich auch Improvisationen gibt, denen keine Harmoniefolge zugrunde liegt. Ein Großteil der Jazzmusik hat sich immer so verhalten, dass man eine bestimmte Form hat, also klassischerweise einen Jazzstandard, über dessen Akkordfolge dann improvisiert wird. Und da gibt es ja unendlich viele Konzepte, wie man das angehen kann. Das ist ja auch das Schöne am Jazz: Wenn man sich beispielsweise 50 Individuen anhört, wie sie über „All The Things You Are“ improvisieren, hat jeder einen etwas anderen Ansatz. Es gibt Leute, die gerne mit kleinen Motiven arbeiten und diese im Laufe ihrer Improvisation fortführen und weiterentwickeln wie z.B. sehr deutlich bei Sonny Rollins’ Aufnahme von „St. Thomas“ zu hören ist. Dann gibt es Leute, die unglaublich energiegeladen improvisieren, Motive spielen vielleicht eine weniger große Rolle, ich denke da z.B. an „Transition“ von John Coltrane. Man könnte da noch viele weitere Ansätze ergänzen.

Um auf die Frage zurück zukommen: ich selbst versuche beim Komponieren eine Melodie, einen Rhythmus und/oder eine Akkordfolge zu (er)finden (das passiert eigentlich immer an meinem Instrument, der Gitarre) und diese Kernidee dann weiterzuentwickeln, so wie beim Nordischen Ballett z.B. ab T. 187: Da hat mir dieser Wechsel zwischen Dur und Moll innerhalb der Phrase gut gefallen, also der Wechsel zwischen den Tönen F und Fis über dem Grundton D. Diese Idee wird dann weiterentwickelt und wiederholt sich ab T. 213 in einem etwas anderen Gewand. Es ist das Ergebnis von improvisatorischen Spielereien mit dem ursprünglichen Motiv. Ich kann mir eigentlich gar keinen anderen Kompositionsprozess vorstellen als den, dass man aus der Improvisation heraus irgendetwas festhält und durch das Aufschreiben zu einer Komposition macht.

Bob Dylan hat mal gesagt, er hätte eigentlich gar nicht komponiert, sondern seine Songs gab es schon immer, er hätte sie quasi nur aus dem Weltall „gepflückt“. Sie seien schon immer da gewesen, er musste sie nur noch „ernten“. Das ist zwar ein schönes Bild, in der Realität gibt es beim Komponieren allerdings ganz selten mal den Moment, wo man denkt: das, was da aus meiner Feder geflossen ist, ist so rund, da gibt es nichts mehr dran zu rütteln. Ganz oft ist es doch auch so, dass man erkennt: Ja okay, das funktioniert schon irgendwie, aber es ist jetzt nicht mein bestes Werk. Ich sehe das nicht so esoterisch wie Bob Dylan, also dass die Musik da schon irgendwo im Universum auf mich gewartet hat, verankert im Pleroma der Welt (lacht) und sie musste mir nur noch durch Gottes Hand oder was auch immer zugeführt werden. Das ist glaube ich Quatsch. Denn letztendlich ist das Schreiben von Musik v.a. Arbeit. Zum Glück, und das sind die schönsten Momente, bin ich aber hin und wieder wirklich sehr zufrieden mit meinen Ideen und ich habe auch nach Jahren nicht das Bedürfnis sie ändern zu müssen.

Wenn man es schafft, jeden Tag etwas Musik zu schreiben (und solche Phasen gab es in meinem Leben), wird zwar nicht nur „Gold“ dabei herauskommen, aber es schult schon ungemein, regelmäßig z.B. eine Melodie zu schreiben, eine besonders schöne Akkordfolge zu finden, sich ausführlich mit Instrumentation oder ähnlichen Themen zu beschäftigen. Ich könnte mich heute dazu zwingen ein Stück zu schreiben, ob das dann mein Bestes wäre, weiss ich nicht, aber ich könnte es tun und deswegen bin ich da eher auf der Seite der Pragmatiker, die sagen: du musst eben auch die Ärmel hochkrempeln und etwas tun. Ich weiss nicht, ob das Ihre Frage jetzt in irgendeiner Form beantwortet hat.

Improvisation ist also ein Hilfsmittel für Sie, um ins Komponieren zu kommen?

Ja.

Man könnte auch sagen, Ihr Stil ist dadurch also von der Improvisation durchdrungen?

Auf jeden Fall insofern, als alles aus irgendeiner Art Improvisation heraus entstanden ist. Beim „Nordischen Ballett“ habe ich viele Melodien zunächst improvisiert, dann aufgeschrieben, verschiedene Akkordfolgen dazu gespielt usw. Wenn mir etwas neues eingefallen ist, habe ich es mir immer wieder vorgespielt und überlegt, wie könnte es weitergehen? Ich habe nie die Takte gezählt, aber wahrscheinlich sind dabei z.T. recht unregelmäßige Formeinheiten herausgekommen, was für mich damals insofern Neuland war, als ich mich bis dahin v.a. mit den bei Jazzstandards gebräuchlichen, also sehr regelmäßigen musikalischen Formen auseinandergesetzt habe. Ich fand es spannend, mich (wie ein klassischer Komponist) dem „Korsett“ von 32 Takten Standard im 4/4 Takt zu entledigen, um es mal plakativ auszudrücken. Das hatte ich vorher so eigentlich noch nie gemacht und deswegen war ich dann auch so happy mit dieser neuen Freiheit, weil jede Melodie oder jede Phrase durch ein immer wieder überlegtes „Wie kann es weitergehen?“ wuchs und wuchs, bis dann etwas dabei herauskam, wo ich ganz intuitiv sagte: so, da kann es jetzt zu Ende sein, da könnte ein Cut sein, jetzt könnte etwas Neues kommen.

Sie haben jetzt den Weg von der Improvisation zur Komposition beschrieben. Gibt es Ihrer Meinung nach auch einen Weg zurück, von der Komposition zur Improvisation?

Das ist eigentlich ja genau das, was den Jazz (auch) ausmacht. Ich bleibe mal beim Beispiel Standard: Im Jazz packt man diesen i.d.R. improvisatorisch an und modelt ihn irgendwie um. Wenn man das dann schriftlich festhält, wäre das der Prozess des Arrangierens. Also das Verändern der Melodien, der Akkorde, des Rhythmus’, Metrums, Tempos usw., also alles was so unter den Begriff „Bearbeitung“ fällt. Von ganz kleinen Veränderungen bis hin zur Unkenntlichkeit, so dass die Grenzen zwischen Arrangieren und Neu-Komponieren verschwimmen. Man denkt sich, wie kann ich das jetzt mal neu gestalten und dem Titel meinen persönlichen Stempel aufdrücken? Dabei gibt es ja auch eine ungemeine Bandbreite.

Macht es Ihrer Meinung nach Sinn sich dabei bestimmte Modelle oder Muster aus Ihrem Stück auf das eigene Instrument zu übertragen und im Sinne einer Improvisation zu reproduzieren?

Das hatte ich tatsächlich mal überlegt (spielt Gitarre) und zwar bzgl. der zuvor angesprochenen Stelle, die mir mit am besten an meinem Stück gefällt, die Melodie ab T.187. Im Original spielen das Harfe und Saxophon, und da habe ich mir gedacht, dass könnte ich doch mal in einen Leadsheet übertragen und mit einer Jazz-Band spielen. Mit dem Anfang der Originalfassung (in der Orgelfassung ab T. 39) würde das vielleicht auch noch gehen. Allerdings kommen dann irgendwann die Pauken mit dem 3/8-Takt rein. Und so etwas mit einer Jazzband, die sich womöglich erst kurz vorm Gig trifft, umzusetzen, wäre unrealistisch. Das müsste man dann schon richtig proben. Solche Ansätze können Spaß machen! Ich habe z.B. mal ein paar Arien aus der Oper Carmen von George Bizet als Leadsheet notiert und mit einer Band gespielt. Why not? Das haben ja auch schon andere Musiker vor mir gemacht. Für mich ist so etwas allerdings eher eine Art Gag und bestimmt keine Highbrow-Musik.

Für meine persönliche Entwicklung war es jedenfalls wichtig damals, dass jemand mal sagt: du hast jetzt alle Freiheiten der Welt, Dinge die dir bisher sakrosankt erschienen, sind es jetzt nicht mehr! Das kann erstmal angsteinflößend sein, mir hat es aber eine neue Welt eröffnet.

Gibt es bestimmte Vorbilder innerhalb Ihrer Komposition?

Bestimmte Vorbilder gab es nicht. Jedenfalls nicht bewußt. Nach der Uraufführung wurde ich öfter darauf hingewiesen, dass der Einfluß anderer Komponisten in meinem Stück wahrnehmbar sei. Ja und? Ich habe mich wie gesagt v.a. von meinen Melodien leiten lassen. Wenn man versucht auf meditative Weise innerlich „vorzuhören“ wie sich ein kleines Motiv weiterentwickeln könnte, kann das ein sehr erfüllender Kompositionsprozess sein. Da ist natürlich auch viel „Trial and Error“ dabei gewesen (lacht). Da steckt kein durchdachtes System dahinter. Ich glaube, ich habe es damals genossen, mich einfach auf meine Ohren zu verlassen und loszulegen.

Haben Sie Wünsche für Ihr eigenes Komponieren?

Ja, was mir beim Komponieren eigentlich immer schwer fällt oder ich gerne besser können würde, ist: noch ausdauernder an der Entwicklung meiner musikalischen Motive zu arbeiten. Es passiert mir schon auch immer noch, dass ich mir vornehme, einer Idee länger „treu“ zu bleiben, bevor etwas neues passiert. Aber manchmal schwindet meine Energie in diesem „Durchführungsprozess“ zu früh, was mir oft während der Arbeit nicht auffällt, sondern erst mit einigem zeitlichen Abstand, was dann umso größeren zeitlichen Aufwand bedeutet, wenn es später wieder korrigiert werden soll.

Vielleicht geht es anderen Komponisten auch so: Beim Schreiben hört und spielt man bestimmte Abschnitte so oft, dass man mit der Einschätzung darüber, wie es ein Hörer beim ersten Mal erlebt, ziemlich daneben liegen kann.

Beim Nordischen Ballett habe ich mich tatsächlich an der ein oder anderen Stelle dafür entschieden, nachträglich bestimmte Teile und Motive einzuschieben, um gegen dieses Phänomen anzuarbeiten. Andererseits kann das Erst-mal-drauf-los-legen aber natürlich auch sehr befreiend sein: man schreibt einfach „wie einem der Schnabel gewachsen ist“ (lacht).

Vielen Dank für das Gespräch!

(Interviewprotokoll mit David Plate am Dienstag, 19.10.2021)

Nordisches Ballett

Text aus dem Programmheft der Orgelfeierstunden im Hohen Dom zu Köln | 58. Zyklus | 2018

 

David Plate (*1971 in Regensburg)

Nordisches Ballett (1999-2016)

Die erste Version dieses Stückes entstand bereits 1999 und zwar in einer Fassung für großes Orchester und Big Band, als David Plate an der Folkwang Musikhochschule Jazzarrangement/-komposition studierte.

Keine andere Komposition von David Plate wurde über einen annähernd langen Zeitraum immer wieder bearbeitet und verändert. Die Spieldauer der ersten Fassung betrug ca. 9, inzwischen sind es 15 Minuten. Die Version für Orchester und Saxophon aus dem Jahr 2013 war schliesslich die Vorlage für eine weitere Bearbeitung, diesmal für Orgel Solo, die nun von Prof. Winfried Bönig bei den Orgelfeierstunden 2018 im Kölner Dom uraufgeführt wird.

Der Titel Nordisches Ballett erklärt sich durch David Plates Affinität für Musik aus der nördlichen Hemisphäre aus z.T. völlig unterschiedlichen Genres. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Filigraner Rhythmus, opulente Harmonik, lange Meldebögen, und reiche Instrumentation findet sich in den Ballettmusiken von Igor Strawinsky (*1882 in Sankt Petersburg) ebenso wie in den Big Band Kompositionen von Maria Schneider (*1960 in Minnesota). Den beiden gelingt es auf beeindruckende Weise die musikalischen Elemente auszubalancieren, große Bögen zu spannen und so die Seele der Zuhörer zu berühren.